Ein Kaugummi als Sinnbild des Friedens

Veröffentlicht am 11.05.2015 in Presseecho

Edzard Reuter: „Es wird verdammt noch mal Zeit, dass wir lernen, dass Flüchtlinge nicht aus Jux fliehen.“ Bild: Staber

Böblingen: Wie Fritz Brezing den Einmarsch der Franzosen erlebt hat / Ex-Daimler-Chef Reuter fürchtet, dass sich die Ukrainekrise ausweitet

Bericht aus der SZBZ von Matthias Staber (11.05.2015)

„Lebt ihr noch?“ „Ja, aber wir trauen uns nicht mehr raus“. Sekunden, bevor Fritz Brezing die Frage hört und seine Mutter antwortet, geht in der Neuffenstraße ein Bombenhagel nieder. Böblingen ist Opfer eines Angriffs der Alliierten, der Zweite Weltkrieg ist inmitten der Stadt angekommen, inmitten der Häuser, der Wohnzimmer der Familien. Das Haus der Familie Brezing ist Schutt und Asche, sie kommt glücklicherweise mit heiler Haut davon.

Fritz Brezing schildert einen kleinen Teil seiner Erlebnisse während des Zweiten Weltkriegs und nach dessen Ende am 8. Mai 1945 im Rahmen einer Gedenkveranstaltung der SPD Böblingen am vergangenen Freitag im Böblinger Arbeiterzentrum. Die Genossen reihten sich mit dieser Veranstaltung in den Reigen der Feierlichkeiten anlässlich des Kriegsendes vor 70 Jahren ein. Als Gastredner trat Edzard Reuter auf, ehedem Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG und Sohn des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Ernst Reuter. Edzard Reuter, geboren am 16. Februar 1928, erlebte den Krieg und das Kriegsende unter anderem durch Schilderungen im Radio, mit seinen Eltern lebte er während des Krieges in der Türkei im Exil. Sein Vater musste als einer der führenden Sozialdemokraten nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchten. Die Flucht in die Türkei erwies sich letztlich als goldrichtig. „Es war eine großartige diplomatische Leistung der damaligen türkischen Regierung, dass sie dem Druck der Deutschen stand gehalten hat und nicht an deren Seite in den Krieg eingetreten ist und dass die Türken dem Druck der Alliierten stand gehalten haben, als diese sie aufgefordert haben, in den Krieg einzutreten“, betont Edzard Reuter.

1946 kehrte er mit seiner Familie nach Deutschland zurück. „Es war ein unmittelbarer Schock. Als wir ausstiegen. Das Land war ein Trümmerfeld, das habe ich aus der Türkei nicht gekannt. Am Bahnsteig in Hannover lagen in einem Tunnel Menschen nebeneinander in Lumpen, abgemagert und mit eingefallenen Gesichtern. Das war mein erster Eindruck von Deutschland etwa eineinhalb Jahre nach Kriegsende“, sagt Reuter. Deutschland wurde damals so Reuter „überschwemmt von Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten und Osteuropa“. Von Flüchtlingen, die mit nicht viel mehr Habseligkeiten als dem, was sie am Körper trugen, ihre Heimat verlassen mussten, um zu überleben. „Flüchtlinge haben bei uns dazugehört. Es wird verdammt noch mal Zeit, dass wir wieder lernen, dass Flüchtlinge nicht aus Jux und Dollerei fliehen, sondern aus großer Not heraus ihrer Heimat den Rücken kehren.“ Reuter betont dies vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um die Flüchtlinge, die vielfach über das Mittelmeer in überfüllten und zum Kentern verurteilten Booten versuchen, ihr Leben zu retten, die in Europa ebenso vielfach vor verschlossenen Türen stehen. „Was sich im Mittelmeer abspielt mit diesen menschlichen Schicksalen ist eine Tragödie“, sagt Reuter.

Jasmina Hostert-Sijercic weiß aus eigener Erfahrung was es bedeutet, Krieg zu erleben und flüchten zu müssen. Sie wuchs in Bosnien auf, als der Balkankrieg in ihr Land hinüberschwappte. „Ich habe mit damals neun Jahren die Reichweite eines Krieges nicht verstanden. Ich weiß aber was es bedeutet, Angst zu haben“, sagt Hostert-Sijercic. 1993 kam sie mit ihrer Familie als Flüchtling nach Deutschland. „Ich fand das damals schrecklich für mich, meine Heimat verlassen zu müssen. Kein Mensch verlässt gerne seine Heimat. Flüchtlinge kommen aus der Not heraus, sie flüchten vor Krieg“, betont sie, die im Krieg einen Arm verlor, in Deutschland nach dem Abitur studierte und das Böblinger Büro des SPD-Landtagsabgeordneten Florian Wahl leitet.


„Die Mahnung bleibt übrig, dass wir unveränderlich bis zum letzten Atemzug verpflichtet bleiben, dass sich so etwas wie der Zweite Weltkrieg nie wiederholen darf“, betont Reuter, allerdings seien Zweifel angebracht, blicke man auf den Krieg in der Ukraine.

„Die unwiderrufliche Vereinigung Europas ist weit wichtiger als die Frage, ob wir in unserer Souveränität teilweise Abstriche machen müssen“, sagt Reuter. Sprich, es gehe auf den Punkt gebracht in Wirklichkeit um die Zukunft Europas. Es müsse klar und deutlich argumentiert werden, warum dies nötig sei und warum Opfer zu erbringen sind, um diese zu erreichen. „Dazu benötigen wir den Mut zu klaren Positionen. Vertrauen entsteht nur durch Wahrheit.“

„Als die Franzosen einmarschiert und wir aus unserem Bunker gekommen sind, habe ich das erste Mal einen dunkelhäutigen Menschen in meinem Leben gesehen. Es war ein Marokkaner und er gab einem Kind ein langes, dünnes Teil. Später habe ich erfahren, dass es ein Kaugummi war. Das haben wir nicht gekannt“, erzählt Brezing.

Dieser Kaugummi war für ihn mithin so etwas wie ein Sinnbild des Friedens.

 

 
 
 

 

Wir auf Instagram